Krafttraining bei Polyneuropathie

Schwindende Muskelkraft ist eines der größten Probleme bei Polyneuropathie und schränkt die Lebensqualität für viele Betroffene massiv ein. Krafttraining ist eine Möglichkeit, um den Kraftverlust zu verlangsamen und zu einem gewissen Grad auszugleichen. In diesem Artikel möchte ich Ihnen deshalb zeigen, wie man die Kraft auch trotz Polyneuropathie trainieren kann. Ich möchte Ihnen aber nicht nur Übungen zeigen, sondern auch erklären, wie ein Training aufgebaut sein sollte, damit es wirklich funktioniert.

In meiner Praxis sehe immer wieder, dass es extrem wichtig ist, trotz Polyneuropathie aktiv zu bleiben und insbesondere durch Training die Muskelkraft zu erhalten. Wer trotz Polyneuropathie seine Kraft trainiert kann seine Mobilität eher erhalten, kann Verletzungen, Stürzen und Folgeerkrankungen vorbeugen. Denn wer mehr Kraft hat, ist auch stabiler und gesünder. Die Auswirkungen auf die Gesundheit sind so stark, dass Menschen mit mehr Muskelkraft statistisch betrachtet sogar länger leben (eine wissenschaftliche Quelle dazu finden Sie hier: Garcia-Hermoso et al. 2018).

Aber was soll man tun, wenn die Kraft aufgrund der Polyneuropathie einfach weniger wird? Diese Frage möchte ich in diesem Artikel beantworten.

Krafttraining bremst die Polyneuropathie aus

Kafttraining ist kein Heilmittel für Polyneuropathie, allerdings bremst es die Erkrankung quasi aus, denn es verzögert, schnell sich die Krankheit auf das Leben auswirkt.

Wer sich nicht bewegt und seine Kraft nicht trainiert, leidet schon viel früher und viel stärker an Kraftverlust, aufgrund dessen man sich nicht mehr gut bewegen kann, gebrechlich wird und die Hilfe anderer benötigt. In vielen Fällen lässt sich die Muskelkraft auch noch trotz Polyneuropathie steigern. Wie wirksam das Krafttraining im Einzelfall ist hängt aber davon ab, welche Form der Polyneuropathie man hat und wie schwer sie ist. Außerdem ist es aber wichtig, auf die richtige Art zu trainieren.

Ich möchte Ihnen deshalb nicht nur Übungen zeigen, sondern auch erklären, wie ein Training aufgebaut sein sollte, damit es wirklich funktioniert. Denn jeder hat bereits irgendwann Kraftübungen gemacht und fast jeder hat dabei nicht die Fortschritte gemacht, die er sich gewünscht hätte. Das liegt meistens daran, dass man  wichtige Grundlagen des Krafttrainings nicht kennt, die ich in diesem Artikel erklären möchte.

Was ich erkläre sind Grundsätze des Training, die man möglichst befolgen sollte. Das heißt aber nicht, dass jeder genau so trainieren MUSS. Wenn Sie trainieren, dann machen Sie das nur für sich, um sich selbst etwas Gutes zu tun. Deshalb müssen die Anweisungen, die ich gebe unter Umständen an Ihre individuelle Situation angepasst werden. Wie gesagt erkläre ich aber, wie ein Krafttraining für die Meisten funktioniert und wie es aufgebaut sein sollte, damit es wirklich Fortschritte bringt.

 

Krafttraining kann auch gegen Schmerzen helfen

Schmerzen werden bei Polyneuropathie mit Schäden der Nerven erklärt. Was allerdings oft übersehen wird ist, dass es bei Polyneuropathie häufig auch zu Schmerzen aufgrund von Muskelüberlastungen kommt. Ich sehe das beinahe täglich bei Patienten. Die Polyneuropathie führt dazu, dass die Muskulatur schwächer wird, die Art sich zu bewegen sich verändert und man seinen Körper nicht mehr so gut spüren und kontrollieren kann. Das bewirkt sehr häufig eine Überlastung der Muskulatur. Die Muskeln, insbesondere in den Füßen und Unterschenkeln verkrampfen oder verhärten sich dann. Das kann zu gewaltigen Schmerzen führen.

Wenn man es schafft, die Muskelkraft zu erhalten, dann beugt man solchen Schmerzen vor. Denn starke Muskeln sind widerstandsfähiger und halten mehr aus bevor Sie überlastet werden und sich verhärten. Wenn man schon an Schmerzen leidet, kann man sich häufig durch die Massage der Muskulatur helfen, wie ich Sie im Artikel "Massage bei Polyneuropathie" beschreibe. Wenn sich dadurch eine Besserung einstellt, sollte im Anschluss allerdings unbedingt die Kraft trainiert werden. Denn wenn man stärker ist, werden die Muskeln nicht so schnell überlastet und die Schmerzen kommen nicht zurück. Mehr zur Selbstbehandlung bei Schmerzen finden Sie auch hier: Schmerzen bei Polyneuropathie und was Sie dagegen tun können.

Falls Sie bereits strukturiertes Krafttraining betrieben haben und damit keinen Erfolg hatten, empfehle ich Ihnen außerdem meinen Artikel Wie man trotz Polyneuropathie Kraft aufbaut, in dem ich eine spezielle Methode des Trainings vorstelle, mit der ich bei Polyneuropathie sehr gute Erfahrungen gemacht habe, die allerdings etwas sportliche Vorkenntnisse verlangt.

1. Übungen mit dem richtigen Schwierigkeitsgrad auswählen

Übungen für die Sprunggelenkstrecker

Zuerst sollten Übungen ausgewählt werden, die einen angemessenen Schwierigkeitsgrad haben. Das heißt die Übungen sollten nicht zu schwer, aber auch nicht zu leicht sein.

Man sollte Übungen wählen, von denen man zwischen 5 und 20 Wiederholungen schafft. Wenn Sie weniger als 5 Wiederholungen mit sauberer Technik schaffen, ist die Übung zu schwer. Wenn Sie wesentlich mehr als 20 Wiederholungen schaffen, ist die Übung zu leicht. Ich zeige Ihnen jetzt am Beispiel des Trainings der Wadenmuskulatur, die bei Polyneuropathie oft stark betroffen ist, wie Sie die Übungen anpassen können.

Sprunggelenk strecken mit dem Gummiband

Ich zeige Ihnen zunächst die leichteste Übung und dann folgen schwierigere Übungen, sodass Sie eine Übung auswählen können, die einen für Sie angemessenen Schwierigkeitsgrad hat.

Bei der ersten Übung legt man ein Gummiband über den Fußballen und drückt dann den Fuß nach vorne unten gegen den Widerstand des Bands. Sie können den Widerstand darüber steuern, wie lang oder kurz Sie das Band halten.

Diese Bewegung gelingt meist auch noch mit recht fortgeschrittener Polyneuropathie. Sollten Sie, auch wenn Sie das Band recht kurz nehmen, wesentlich mehr als 20 Wiederholungen davon schaffen, dann können Sie die nächstschwierigere Übung versuchen: Das Wadenheben.

Wadenheben

Stellen Sie sich aufrecht hin - Sie können sich auch gerne an etwas festhalten - und versuchen Sie, Ihren Körper mit der Kraft Ihrer Waden anzuheben bis Sie auf den Zehenspitzen stehen. Lassen Sie die Fersen jetzt wieder auf den Boden sinken und wiederholen Sie dieselbe Bewegung.

Wadenheben einbeinig

Um den Schwierigkeitsgrad zu steigern, also wenn Sie mehr als 20 Wiederholungen vom Wadenheben schaffen, dann machen Sie einfach die gleiche Bewegung auf einem Bein. Sie können sich dabei natürlich festhalten. Sollte die Übung auf einem Bein zu schwer sein und beidbeinig zu leicht, dann nehmen Sie einfach ein Gewicht in die Hand und machen Sie sie weiterhin beidbeinig.

Übungen für die Knie- und Hüftstrecker

Wenn Ihre Polyneuropathie so schwer ist, dass Sie diese Übungen nicht mehr schaffen, weil Sie Ihre Wadenmuskeln gar nicht mehr aktivieren können, dann können Sie das gleiche System immernoch auf andere Muskeln anwenden. Zum Beispiel ist es dann sinnvoll, die restliche Beinmuskulatur zu trainieren. Denn wenn Sie starke Oberschenkel haben, können diese die Schwäche der Waden zumindest teilweise ausgleichen. Auch dazu zeige ich jetzt die entsprechenden Übungen.

Aufstehen und wieder hinsetzen

Die leichteste Übung wäre, einfach von einem Stuhl aufzustehen, sich wieder hinzusetzen und wieder aufzustehen. Sollte das sehr schwer fallen, können Sie sich mit den Armen helfen.

Sollte das zu leicht sein, geht man zur nächsten Übung weiter.

Kniebeugen

Als Steigerung versuchen Sie, Kniebeugen zu machen. Dabei lassen Sie die Arme einfach seitlich neben dem Körper herunterhängen. Achten Sie darauf, dass Sie den Oberkörper leicht nach vorne neigen müssen, um das Gleichgewicht halten zu können. Achten Sie darauf, die Knie nicht weiter als bis zu den Fußspitzen nach vorne zu schieben.
Sollten die Kniebeugen trotzdem zu leicht sein, also wenn man wesentlich mehr als 20 Wiederholungen schafft, kann man zusätzlich ein Gewicht in den Händen halten.

Kniebeugen einbeinig

Um den Schwierigkeitsgrad zu steigern machen Sie die gleiche Bewegung, jetzt aber wieder auf einem Bein stehend. Natürlich können Sie sich dabei an etwas festhalten.

Achten Sie darauf, dass Sie eine Übung wählen, die wirklich dem entspricht, was Sie schaffen. Wenn Sie eine zu leichte Übung wählen, wird der Trainingserfolg ausbleiben. Auch wenn Sie weniger Wiederholungen machen als Sie eigentlich schaffen würden, entsteht kein Trainingseffekt. Wenn Sie zum Beispiel von einer Übung 20 Wiederholungen schaffen würden, aber schon nach 10 Wiederholungen aufhören, dann hat das Training auch kaum eine Wirkung.

Wie Sie sehen gibt es für jedes Körperteil Übungen in verschiedenen Schwierigekitsgraden. Wenn Sie Übungen für weitere Körperteile kennenlernen möchten, zum Beispiel für die Fußheber oder für die Arme empfehle ich Ihnen mein Buch "Bewegung bei Polyneuropathie". Darin sind Übungen für die Körperteile enthalten, die nach meiner Erfahrung als Therapeut bei Polyneuropathie am dringendsten trainiert werden sollten.

Zahlreiche weitere Übungen für die Kraft, sicheres Gehen und besseres Gleichgewicht finden Sie in meinem Buch "Bewegung bei Polyneuropathie".

2. Kleine Steigerungen einbauen um wirklich stärker zu werden

Der zweite entscheidende Grundsatz des Krafttrainings ist die sogenannte Progression. Das heißt, dass man versucht, sich von Training zu Training ein kleines bisschen zu steigern. Also man sollte jedes Mal, wenn man trainiert versuchen, ein kleines bisschen mehr zu schaffen. Wenn Sie heute zum Beispiel 10 Wiederholungen einer Übung schaffen, dann versuchen Sie beim nächsten Training 11 Wiederholungen zu schaffen. Meistens schafft man das auch. Das hört sich nach einer kleinen Veränderung an. Es ist aber das, was die Verbesserungen beim Krafttraining letztlich ausmacht. Denn niemand wird von einem Tag zum nächsten viel stärker. Jeder Gewichtheber und jeder Bodybuilder verbessert sich immer nur ein kleines bisschen von Training zu Training. Diese kleinen Fortschritte können sich mit der Zeit aber zu gewaltigen Verbesserungen summieren.

Ich möchte Ihnen dazu Verbesserungen zeigen, die ich tatsächlich bei Patienten gesehen habe. Sie sehen im Bild rechts die Wiederholungszahlen beim Wadenheben, die einer meiner Patienten schaffte. Ich habe wöchentlich mit ihm trainiert und in der Zeit dazwischen hat er selbständig weitertrainiert. Wie Sie sehen hat er sich jede Woche um einige Wiederholungen gesteigert. Von 6 Wiederholungen am Anfang steigerte er sich nach fünf Wochen auf 16 Wiederholungen. Und das im Alter von 75 und trotz Polyneuropathie.

Das war nur möglich, weil er jedes Mal versucht hat, etwas mehr zu schaffen. Der Körper passte sich dann an das Training an und er steigerte sich auch jedes Mal. Wenn er sich, so wie das viele machen, einfach eine bestimmte Wiederholungszahl - zum Beispiel 10 - vorgenommen hätte und diese jedes Mal gemacht hätte, hätte er sich auch nicht verbessert. Nur dadurch, dass er immer versucht hat ein kleines bisschen mehr zu machen, hat er diese Fortschritte geschafft. Übrigens muss man sich dazu nicht jedes Mal mehr anstrengen. Denn man wird ja stärker. Das heißt, man schafft mehr Wiederholungen mit der gleichen Anstrengung. Die 16 Wiederholungen nach 5 Wochen waren also genauso anstrengend wie die 5 Wiederholungen am Anfang. Und das ist natürlich eine Veränderung, die man im Alltag spürt. Denn immer, wenn man eine längere Strecke gehen muss, eine Treppe steigt oder etwas Schweres tragen muss, ist das dann natürlich auch weniger anstrengend. Mehr Kraft zu haben macht das Leben also leichter.

Ich möchte Ihnen jetzt aber noch die Leistung von einem Patienten zeigen, bei dem die Polyneuropathie so weit fortgeschritten war, dass er seine Waden garnicht mehr trainieren konnte. Er war 91 Jahre alt und litt seit 20 Jahren an Polyneuropathie. Weil seine Waden sich nicht mehr trainieren ließen machten wir Kniebeugen, um wenigstens die Kraft seiner Oberschenkel zu erhalten. Wie Sie in der Grafik sehen hat auch er sich von Woche zu Woche steigern können. Am Anfang schaffte er 15 Kniebeugen und nach 5 Wochen schon 33. Natürlich ist seine Polyneuropathie dadurch nicht verschwunden. Aber etr hatte trotz der Polyneuropathie mehr Kraft in den Beinen. Auch das macht den Alltag natürlich leichter.

Um solche Fortschritte zu schaffen ist es aber wichtig, das Training zu dokumentieren. Denn kein Mensch kann sich die Wiederholungszahlen von jedem Training merken. Insbesondere wenn man mehrere Übungen macht ist es deshalb entscheidend, sich die Wiederholungszahlen aufzuschreiben. Dazu reicht eine ganz einfache Tabelle, in die Sie die gemachte Übung, das Datum und die geschaffte Wiederholungszahl eintragen.
Eine solche Tabelle für die entsprechenden Übungen finden Sie übrigens in meinem Buch "Bewegung bei Polyneuropathie". Damit können Sie die wichtigsten Übungen für Patienten mit Polyneuropathie dokumentieren und sehen, ob Sie sich verbessern.

3. Regelmäßig trainieren - nicht zu selten, nicht zu oft

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Training ist, wie häufig man trainieren sollte. Es gibt viele Leute, die viel zu selten trainieren, es gibt aber auch manche, die zu oft trainieren. Manche machen mehrmals täglich die gleiche Kraftübung. Das wäre beim Training der Koordination oder der Beweglichkeit durchaus angemessen. Beim Krafttraining ist das aber kontraproduktiv. Denn um die Kraft wirklich zu steigern ist eine recht große Anstrengung und dadurch eine große Belastung notwendig. Der Körper benötigt dann eine ausreichnde Erholungspause bis zum nächsten Training. Wenn man am gleichen Tag noch einmal trainiert ist die Erholungspause zu kurz. Denn durch das Training ermüdet man und ist unmittelbar nach dem Training etwas weniger leistungsfähig als vor dem Training. Erst in der anschließenden Erholgunsphase wird man leistungsfähiger als vorher. Das heißt, wenn man zu früh trainiert, wird man nicht stärker, sondern überlastet sich.
Wenn man aber zu lange wartet bevor man wieder trainiert, verschwindet der erreichte Trainingseffekt schon wieder bis zum nächsten Training und die Fortschritte, die das Training gebracht hat gehen wieder verloren. Wenn man also nur selten trainiert, zum Beispiel alle 1-2 Wochen, macht man ebenfalls keine Fortschritte.

Am besten trainiert man alle zwei Tage

Ein angemessener Rhythmus, den man in der Praxis gut umsetzen kann ist ein kurzes intensives Training alle zwei Tage. Es ist meistens besser, einige wenige wichtige Übungen alle zwei Tage zu machen, als einmal pro Woche ein langes Training mit vielen Übungen zu absolvieren.

Trainingspläne auf Wochenbasis, in denen auch unterschiedliche Arten des Trainings, also Gleichgewichtstraining, Ausdauertraining und Krafttraining aufeinander abgestimmt sind finden Sie in meinem Buch "Bewegung bei Polyneuropathie".

Darin finden Sie 17 verschiedene Kraft-Übungen speziell bei Polyneuropathie. Außerdem enthält das Buch einen umfangreichen Teil zum Gleichgewichtstraining, mit weiteren 23 Übungen, die die Signalverarbeitung im Gehirn trainieren und so das Gehen verbessern und Schmerzen reduzieren. Außerdem sind Hinweise für das Ausdauertraining enthalten. Mehr dazu finden Sie außerdem hier:

Übungen bei Polyneuropathie

Sport und Polyneuropathie

Darüber hinaus enthält das Buch Hinweise zum Training bei besonderen Formen der Polyneuropathie wie Diabetischer Polyneuropathie und Polyneuropathie nach Chemotherapie. Auch Trainingspläne, um die unterschiedlichen Teile des Trainings im Wochenrhythmus abzustimmen, sowie Selbsttests und Tabellen zur Trainingsdokumentation sind im Buch enthalten. Die aktuelle Version von Bewegung bei Polyneuropathie ist eine umfangreiche Neufassung mir viel neuem Inhalt, nachdem die erste Auflage bereits sehr erfolgreich war. Ich würde mich natürlich freuen, wenn auch Sie ein Exemplar bestellen würden. Einen Link dazu finden Sie hier: