Wie Sie trotz Chemotherapie beweglich bleiben
Die Medizin verfügt heutzutage über viel bessere Methoden zur Chemotherapie als früher. Die Überlebenschancen von Krebserkrankten liegen sehr viel höher als noch vor zehn Jahren. Leider kommt es im Zuge einiger Chemotherapien zu Nervenschäden – der Polyneuropathie (PNP). Das Gleichgeweicht leidet. Schmerz und Missempfindungen treten auf. Die Sturzgefahr steigt. Viele trauen sich nicht mehr, am alltäglichen sozialen Leben teilzunehmen. Manchmal muss die Dosis der Chemotherapie gesenkt oder diese sogar ganz abgebrochen werden. Ein neues spezielles Übungsprogramm kann jedoch helfen.
Das Polyneuropathie-Training
Bis vor kurzem gab es tatsächlich noch kein Mittel gegen die Nervenschäden. Weder Medikamente noch Vitamine oder die Elektrostimulation konnten helfen. Außerdem wirkt die Polyneuropathie dosis-beschränkend. Oft muss die Chemotherapie abgebrochen oder niedrig dosiert werden, weil die Polyneuropathie zu schlimm wird. Dementsprechend sind dann leider oft auch die Behandlungsergebnisse nicht so gut wie erhofft. Seit neuestem jedoch gibt es ein Training, das bislang noch den wenigsten bekannt ist, weil es so neu ist. Die Nachweise seiner Wirksamkeit sind überzeugend: Das Polyneuropathie-Training ist die bislang einzige bekannte Intervention, die wirklich hilft. Und das Schönste daran: Sie können es selber machen. Ohne große Hilfsmittel. In wenigen Minuten. Da dieses hilfreiche Programm in der Praxis der Krebsbehandlung so neu ist, dass es noch nicht großflächig verbreitet ist, habe ich das Training so konzipiert, dass Sie es bei sich zu Hause in den eigenen vier Wänden einfach und schnell anwenden können. Das einzige Trainingsgerät, das man benötigt ist ein Balance Pad.
Das Trainings- und Wirkprinzip
Ein weiterer Vorteil: Das Training strengt nicht an und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass es selbst dann wirkt, wenn Sie „nur“ zweimal die Woche für 8 Minuten Zeit finden. Bei diesem Trainingsumfang zeigten sich in einer Studie der Sportonkologie der Universitätsklinik Freiburg deutliche Verbesserungen des Gleichgewichts und sogar der Missempfindungen in den Füßen. Besser noch: Die „Nebenwirkungen“ sind alle positiv. Eine davon ist, dass es umso mehr Spaß macht, je eher es zur Alltagsroutine wird. Die Freude am Training stellt sich vor allem dann ein, wenn Sie stand- und gehsicherer werden und sich wieder trauen, aus dem Haus zu gehen oder sogar wieder Sport zu treiben. Jedoch ist es während der Chemotherapie auch schon als großer Erfolg zu betrachten, wenn Ihr Gleichgewicht sich nicht verschlechtert. Aber Training ist doch immer anstrengend und belastend? Dieses nicht. Denn statt Muskeln zu trainieren (anstrengend), wird das Gehirn trainiert (keine körperliche Anstrengung nötig). Das Gehirn lernt, die Schäden an den Nerven auszugleichen. Es lernt, aus dem Wenigen, was an Nervensignalen im Gehirn ankommt, einfach mehr zu machen. Dahinter steht das universelle Trainingsprinzip: Was Sie trainieren, verbessert sich. Was Sie üben, können Sie besser. So haben wir als Kinder alle Radfahren gelernt: Am Anfang noch wackelig, aber dann mit jedem zurückgelegten Meter immer sicherer. Das ist das Trainingsprinzip. Es liegt auch dem folgenden einfachen Programm zugrunde.
Das Trainingskonzept
Das Training stärkt jene Fähigkeiten, auf die es in Ihrem Alltag ankommt: Sicher Gehen, sicher Stehen – und dann beides jeweils unter Ablenkung. Denn wenn Sie zum Beispiel in der City zu Fuß unterwegs sind, möchten Sie auch unter der vielfachen Ablenkung einer lebhaften Innenstadt sicher stehen und gehen. Das komplette Programm umfasst deshalb insgesamt 16 Übungen und Varianten sowie einen Selbsttest zur Trainingssteuerung. Aus Platzgründen konzentrieren wir uns im Folgenden auf drei zentrale Übungen. Zuvor einige Sicherheitshinweise, die Sie unbedingt beachten sollten.
Sicherheit geht vor
Wenn Sie das Gleichgewicht trainieren, sorgen Sie bitte immer dafür, dass nichts passieren kann, wenn Sie einmal die Balance verlieren. Das heißt: Bei Übungen im Stehen am besten in einem Türrahmen üben. Damit Sie nötigenfalls sich sofort mit beiden Händen abstützen können. Bei Übungen im Gehen: Immer an der Wand lang – oder am Rücken eines Sofas. Und niemals in der Nähe von Glasschränken oder -türen, dem guten Geschirr oder anderen zerbrechlichen Dingen. Wenn ein Partner neben Ihnen hergeht, gibt das zusätzlich Sicherheit – ist aber nicht unbedingt nötig. Wenn Sie einen schlechten Tag erwischt haben, unter Schwindel, Fieber oder einem Infekt leiden, wenn es zu Blutungen kam oder Sie außerordentlich erschöpft oder müde sind, wenn schon vor dem Üben der Puls hoch ist oder bei Übelkeit sollten Sie nicht üben. In diesen Situationen ist Abwarten und Erholen immer besser als Aktionismus. Insbesondere in den ersten 24 Stunden nach Gabe der Chemotherapie sollten Sie das Training aussetzen.
1. Übung: Statisches Gleichgewicht im „Tandemstand“
Sicher und fest zu stehen, ist oft schon eine Herausforderung. Das Polyneuropathie-Training beginnt deshalb mit der einfachsten Übungen: freihändiges Stehen, 30 Sekunden lang. Wenn Sie das zwei, drei Tage hintereinander mühelos schaffen, dann gehen Sie zum Tandem-Stand über. Stellen Sie einen Fuß hinter den anderen auf den Boden. Der große Zeh des hinteren berührt dabei die Ferse des vorderen Fußes. Das ist der (geschlossene, nicht versetzte) Tandem-Stand. Und wieder: Versuchen Sie, 30 Sekunden zu schaffen. Wenn es Ihnen (noch) nicht gelingt, bleiben Sie einfach so lange stehen wie es geht. Und probieren es noch einmal. Nach einigen Versuchen schaffen Sie einige Sekunden mehr: Das ist ein Erfolg! Jede Sekunde zählt. Wenn diese Variante Sie nicht mehr herausfordert, probieren Sie die Steigerung mit geschlossenen Augen.
2. Übung: Dynamisches Gleichgewicht im Gehen
Diese Übung steigert Ihr dynamisches Gleichgewicht und Ihre Gangsicherheit. Gehen Sie wie in Zeitlupe. Versuchen Sie, bei jedem Schritt das Bein ungefähr zwei Sekunden in der Luft zu halten. Auf diese Weise stehen Sie bei jedem Schritt sekundenlang auf einem Bein – das trainiert Ihr Gleichgewicht intensiv und in der Bewegung. Und immer daran denken: an der Wand oder dem Sofarücken entlang! Bei dieser Übung gilt: Je langsamer Sie gehen, desto besser. Fünf Sekunden das Bein während des Schreitens in der Luft zu halten sind besser als drei. Auch beim Gehen gilt: Ziel sind immer 30 Sekunden zu üben. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal. Versuchen Sie einfach, beim nächsten Mal ein paar Sekunden mehr herauszuholen. Wer dagegen 30 Sekunden auf Anhieb schafft: Prima. Auf zur nächsten Übung!
3.Übung: Dynamisches Gleichgewicht unter Ablenkung
Diese Übung ist zugleich Abschluss und Ziel jedes Trainings. Sie trainieren damit, wieder sicher zu gehen, während Sie gleichzeitig etwas anderes tun. Genau das machen wir nämlich im Alltag ganz oft. Weil wir jetzt schon auf dem höchsten Niveau üben, gilt hier ganz besonders: Sicherheit ist oberstes Gebot! Nehmen Sie zunächst einen Ball in die Hand. Gehen Sie ganz normal, wobei Sie den Ball von einer Hand in die andere werfen. Der Wurf muss nicht hoch sein. Wichtig ist, dass Sie ganz normal gehen, während Sie sich selber mit dem Ball ablenken. Wenn Sie 30 Sekunden schaffen, ohne dass der Ball herunterfällt oder Sie sich abstützen müssen, können Sie die neu gewonnene Gangsicherheit körperlich spüren und können stolz auf sich sein.
Ein großer Helfer
Für die meisten Polyneuropathie-Patientinnen und -Patienten ist die dritte Übung schon recht anspruchsvoll. Das heißt: Am Anfang vielleicht noch zu schwierig. Damit Sie nicht lange trainieren müssen, bis es besser wird, wurde ein nützliches Hilfsmittel erfunden, das sich in der Praxis tausendfach bewährt hat und das viele bereits kennen: das Bitzer Pad. Es ist praktisch eine künstlich wackelige Unterlage. Wenn Sie darauf üben, verbessert sich Ihr Gleichgewicht sehr viel schneller. Für Polyneuropathie-Patienten ist dabei entscheidend: Verwenden Sie niemals ein Pad, das selber eine Gefahrenquelle darstellt, weil es entweder zu rutschig ist, zu breit oder so hoch, dass Sie beim Drübersteigen oder Üben daran hängenbleiben. Es gibt spezielle Pads für PNP-Patienten. In meinem Shop können Sie auch ein Balance Set für Chemotherapiepatienten bestellen, in dem Sie ein spezielles Balance Pad, eine Übungsanleitung und einen Übungsball finden.
Wer übt, wird belohnt
Das Training wirkt übrigens nicht nur dann, wenn bereits Symptome auftreten. Es wirkt auch vorbeugend, noch bevor Sie eine Chemotherapie antreten. Wenn Ihr Gleichgewichtssinn vor der Therapie dem eines geübten Sportlers entspricht, stehen Sie nach einer therapiebedingten Einschränkung immer noch besser da als viele Untrainierte. Dann können Sie immer noch den Alltag problemlos bewältigen. Und das wollen wir schließlich alle.